Bevor Herr Söring beginnt, bin ich von ihm und seinem Anwalt gebeten worden, ein kurzes Statement abzugeben. Nämlich dieses: Herr Söring wurde am 25. November 2019 auf Bewährung und ohne Unschuldserklärung entlassen. Das Urteil gegen ihn wurde nicht aufgehoben. Zumindest in den Vereinigten Staaten gilt er daher immer noch als verurteilter Doppelmörder. In Deutschland hingegen gilt Herr Söring als nicht vorbestraft. Sein Führungsregister beim Bundezentralamt enthält keinen Eintrag.

Jens Söring: Das ist etwas, dass die Zuhörer und Leser wissen sollten, einerseits. Andererseits ist das auch der Grund, warum ich in die Öffentlichkeit gehe. Denn ich bin ja tatsächlich unschuldig, obwohl ich nicht öffentlich für unschuldig erklärt wurde. Ich möchte meine Geschichte erzählen, damit Menschen verstehen, warum es so geschah. Wieso man in diese Situation hineinkommt und wie man wieder herauskommt.

Volker Siegle, Initiator der Gesundheits- und Sportwochen / Frage: Das diesjährige Motto der Gesundheits- und Sportwochen steht unter dem Motto der Lebensfreude. Sie mussten 33 Jahre lang eine drastischen Erfahrung in Ihrem Leben machen, die von Freude entfernter nicht sein könnte. Wie steht es heute um das Thema der Lebensfreude? Gibt es sie wieder in Ihrem Leben und welchen Aspekt würden Sie dabei besonders hervorheben?

Antwort: Da gibt es so viele Aspekte, da kann man sich nicht auf den ein oder anderen konzentrieren. Das Erste, das mir in den Sinn kommt ist, dass ich hier in dieser Welt die Freiheit habe für Beziehung.
Im Gefängnis war es so, dass jeder des Nächsten Feind war. Man musste immer erst einmal davon ausgehen, dass man in Gefahr war. Das bedeutete, man musste mit großer Vorsicht vorgehen und in den meisten Fällen war das auch berechtigt. Es gab zwar eine kleine Handvoll Menschen, die ich als Freunde bezeichnen würde. Das waren in den 33 Jahren drei bis fünf Männer, zu denen ich etwas Vertrauen fassen konnte. Und darum geht es ja in Beziehungen.
Jetzt in der Freiheit ist das möglich. Denn ich habe nicht nur die Menschen, die mich während der Haft unterstützt haben und mit denen in noch weiter in Kontakt bin. Sondern ich habe auch neue Freunde gewonnen. Das bedeutet mir sehr, sehr viel. Dass Menschen mir eine Chance gegeben haben hier draußen, trotz meiner schwierigen Vergangenheit. Dass sie sich auf mich eingelassen haben und dieses gegenseitige Vertrauen aufgebaut werden konnte.
Ein weiterer Aspekt, der mir gerade in den Sinn kommt, ist die Natur. Hierzu hatte ich während der Haft ja überhaupt keinen Kontakt. Alles war aus Beton und Metall. Auf dem Sportplatz war zwar staubiges Gras, aber es gab nichts dergleichen wie Natur.
Jetzt kann ich unter Bäumen joggen und muss sogar aufpassen, dass ich dabei nicht in Kuhfladen trete. Vor einigen Tagen ist mir sogar ein Hase über den Weg gelaufen. Der war so gigantisch groß, dass ich dachte, es wäre ein Hund. Letzte Woche beim Spaziergang sind sogar Rehe an uns vorbeigelaufen. So etwas vermisst man in der Haft vollkommen. Diese Ferne von der Natur ist wirklich, wirklich schmerzhaft. Ich spüre das am meisten bei Bäumen. Das hört sich komisch an, ich weiß, aber ich habe irgendwie eine gewisse Marotte mit Bäumen. Es macht etwas mit mir, im Wald spazieren zu gehen. Auch jetzt, mehr als zwei Jahre nach meiner Entlassung, bewegt mich das immer noch sehr. Meine Freunde veräppeln mich deshalb manchmal, aber es ist wirklich so.
Dann ist da noch als drittes Beispiel, die Freiheit, sich selber und seine Persönlichkeit zu entfalten. Ich merke an mir selber, wie schwierig mir noch manche Lebensbereiche fallen. Insbesondere bei der Planung der Reise zu meinen Auftritten. So etwas ist richtig schwer für mich. Mittlerweile kann ich seltsamerweise zwar große Entscheidungen treffen und komme damit ganz gut zurecht. Aber die Masse an kleinen Entscheidungen ist immer noch schwer für mich. Gestern war ich beispielsweise in einem riesigen Supermarkt. Die Masse an Konsumgütern und die teilweise verrückte Auswahl ist für mich erdrückend. Das ist mir vor zwei Jahren schon bei einem kleineren Einkaufszentrum schwer gefallen und heute ist es immer noch so. In der Betriebswirtschaft gibt es sogar Untersuchungen dazu, das „paradox of choice“. Wenn man zu viele Möglichkeiten anbietet, schreckt das den Käufer ab. Deshalb ist es tatsächlich besser, die Auswahl auf eine begrenzte Zahl an Möglichkeiten einzuschränken. Das steigert die Verkäufe. Gestern habe ich das ganz konkret erlebt. Ich wollte eigentlich gar nicht mehr so richtig einkaufen, weil es einfach zu viel war. Zu viel von allem.

Frage: Eine der elementarsten Frage, die ich mir immer wieder stelle: Wie überlebt man 33 Jahre Haft? Vermutlich kann man nicht einfach die Zeit absitzen, ohne gewisse Lebensmechanismen zu entwickeln.

Antwort: Ja, das ist ein ganz großer Fehler, den manche Insassen machen. Sie meinen, sie können sich da durchmogeln, doch das geht nicht.
Frage: Können Sie beschreiben, was Sie während der Haft am Leben erhalten haben? Gab es irgendwelche schönen Momente, die Ihnen die nötige Kraft gegeben haben? Ich könnte mir vorstellen, dass vor allem Freundschaften mit anderen Häftlingen eine wichtige Rolle gespielt haben oder kam das eher selten vor?
Antwort: Explizit positive Erlebnisse mit anderen Häftlingen waren tatsächlich Mangelware. Es war so, dass fast alles, was im Gefängnis geschah, immer mehrere Ebenen hatte. Selbst bei Gesprächen über Fußball, was natürlich American Football war, geht es unterschwellig immer um Positionskämpfe.
Deshalb ist ein Gespräch über Fußball auch nicht nur ein Gespräch über Fußball. Es immer auch ein Abklären der Hackordnung. Abhängig davon, wo man in der Hackordnung ist, kann man mit seiner Meinung nur so und so weit gehen. Während andere, die weiter oben in der Hackordnung stehen, weiter gehen können. Das gleiche betrifft Karten spielen. Beides sind Sachen, mit denen ich mich während meiner Haft überhaupt nicht befasst habe. Ganz am Anfang habe ich ein kleines bisschen Karten gespielt. Und für Sport im Fernsehen habe ich mich nie interessiert. Aber das sind ganz große Themen im Strafvollzug. Denn es gibt ja keine, beziehungsweise nur sehr wenig Arbeit für Häftlinge in Amerika. Es gibt auch keine Ausbildungsmöglichkeiten oder andere Möglichkeiten zur Resozialisierung. Das wurde in den 90ern umgestellt auf das Konzept des „warehousing“. Gefängnisse wurde nicht mehr zu Rehabilitation genutzt, sondern umgestellt: Weg von der Resozialisierung hin zur Verwahrung. Mit dem einzigen Ziel: Das Böse soll ins Kühlfach gelegt und verwahrt werden. Man kümmert sich nicht mehr darum. Deswegen wird sehr, sehr viel über Sport geredet und Karten gespielt. Aber das sind eben nie nur schöne Momente. Das sind auch immer unterschwellig Kämpfe um die Machtposition. Deswegen ist es sehr wichtig, dass man weiß, mit wem man Karten spielt. Denn gegen gewisse Häftlinge solltest du nicht gewinnen. Doch es gab auch Ausnahmen. Ich hatte, wie gesagt, Mitgefangene, mit denen ich sehr gut zurecht kam und die ich als Freunde bezeichnen kann. Aber es waren eben sehr, sehr wenige. Einer, an den ich momentan denke und an das, was uns verband, war mein Zellenmitbewohner. Ich weiß ja, dass ich unschuldig bin. Aber ich bin sehr sicher, dass auch er unschuldig war. Ich habe mir seine Akte angeschaut und das hat uns vereint.
Es gab einen weiteren Häftling, mit dem habe ich zusammen Tai Chi gemacht. Was im Gefängnis eine extrem große Seltenheit ist. Aber wir haben das tatsächlich geschafft und es anderen Häftlingen beigebracht. Ich beschreibe das in einem meiner Bücher „Ein Tag im Leben des 179212“. Das war schon eine besondere Sache. Denn so etwas ist normalerweise nicht erlaubt, nicht einmal Yoga. Zudem war Tai Chi ursprünglich eine Kampfsportart und ist verwandt mit dem Kung Fu. Dass die uns das erlaubt haben, ist kaum zu fassen. Doch wir haben es tatsächlich vier Jahre durchgezogen.
Dann hatte ich einen anderen, ganz seltenen Freund. Was uns zusammengebracht hat: Wir haben beide Interesse am Schreiben. Mir ist es gelungen, während der Haft sechs Bücher zu veröffentlichen. Er war ein älterer Mann und er hat auch sehr gut geschrieben. Er war einer dieser seltenen Typen im Gefängnis. Gebildeter Mann, bürgerlicher Herkunft mit dem man vernünftig reden konnte, das war kein Verbrecher. Er hat einen Menschen erschossen und ihm wurde ein Deal angeboten: Wenn er sich schuldig erklärt, bekommt er neun Monate. Doch er sagte: „Nein, das war Selbstverteidigung, ich bin nicht schuldig.“ Daraufhin hat er 23 Jahre gekriegt. Etwa in der Hälfte ist er an einem Lungenproblem verstorben.
Und da war noch mein letzter Zellenmitbewohner, ein Afroamerikaner aus Kansas. Das war ein richtig anständiger Typ, mit ihm konnte ich richtig gut. Auch ihm wurde ein Deal angeboten. Wenn er sich schuldig erklären würde, bekäme er acht Jahre. Aber er hat den Deal abgelehnt, also hat er 47 Jahre bekommen. Davon wird er 42 Jahre absitzen müssen. Er war zu dem Zeitpunkt 50 Jahre und wird also 92 Jahre alt werden müssen, um frei zu kommen.
Ich habe ihn dazu bringen können, einen Antrag an die NGO „Innocence Project“ zu stellen und sein Fall wurde tatsächlich zur weiteren Untersuchung angenommen, was sehr selten ist. Es besteht also die Möglichkeit, dass auch er unschuldig ist.
Das waren also die wenigen Kontakte, die ich im Gefängnis hatte. Denn alle sind erst einmal gefährlich und man kann ohne Gang im Gefängnis nicht überleben. Die wenigsten Häftlinge haben Kontakt zur Außenwelt und die Armut macht Menschen erst verzweifelt und dann gefährlich.
Frage: Sie sagen, dass man ohne Gang im Gefängnis nicht überleben kann. Gibt es denn keine Sicherheit und Schutz durch die Wärter, wenn es zu Übergriffen kommt?
Antwort: Das Hauptanliegen der Gefängniswärter ist es zu vermeiden, Berichte zu schreiben. Daher gibt es auch kein großes Interesse, bei Übergriffen zu intervenieren und es wird sehr oft weggeschaut. Ein weiteres großes Problem ist, es gibt nicht genug Wärter. Wenn ich mich recht erinnere, waren im letzten Gefängnis 1.100 Insassen und pro Schicht 28 Sicherheitsbeamte. Man hat dort stundenlang keine Wärter gesehen, es gab einfach keine.

Frage: Was war für Sie der Schlüssel, um im Gefängnis überleben zu können?

Antwort: Allianzen. Man muss Allianzen formen. Alleine überlebt keiner. Deswegen bin ich am Anfang meiner Haftzeit zusammen mit anderen, älteren Häftlingen ins dezentralisierte Finanzwesen eingestiegen. Wir haben Zigaretten an andere Häftlinge ausgeliehen und dann mit Zinsen zurückbekommen. Das heißt, man verleiht zwei Päckchen Zigaretten und bekommt drei am Ende des Monats zurück.

Frage: Können Sie genauer erklären, wie das mit dem dezentralisiertem Finanzwesen ablief und welche weiteren Überlebensstrategien Sie für sich finden konnten?

Antwort: 1991 wurde ich beinahe vergewaltigt. Das war eine ganz, ganz knappe Sache. Ich brauchte also etwas, um mich zu schützen. So wurde ich zum Sportfanatiker. Denn die allermeisten Häftlinge haben alle Hoffnung verloren und tun gar nichts. Sie gehen nicht einmal raus auf den Sportplatz. Nur etwa 10% der Häftlinge gehen ins Hantelstemmen-Areal, 5% davon regelmäßig. Ich war eben einer der 5%, die regelmäßig gegangen sind. Nun bin ich körperlich nicht groß, aber die anderen Häftlinge sahen, dass ich mich darum bemühe, stärker zu werden. Wenn man sich also ein Opfer aussucht, dann sucht man es nicht bei den 5% der Häftlinge, die regelmäßig Sport treiben. Sondern man geht zu den 95%, die gar nichts tun, denn die können sich nicht wehren. Das ist wie Marketing. Man nimmt sich raus aus der Kategorie der potentiellen Opfer und begibt sich rein in die Kategorie Hantelstemmer.
Dann kann man sich im Speisesaal zu den anderen Hantelstemmern hinsetzen. Die anderen Häftlinge sehen das und denken sich: Der versteht sich gut mit den Hantelstemmern, den Stress brauchen wir nicht. Wenn wir jemanden etwas antun wollen, dann gehen wir zu den 95%, die Schwächlinge sind. Das ist eine Strategie.
Eine andere Strategie ist die, die ich mit zwei älteren Häftlingen gemacht habe, die Leihgeschäfte betrieben haben. Ich habe sie beobachtet, mich zu ihnen gesetzt und gesagt: „Passt mal auf Jungs. Ich habe auf der Uni ein bisschen BWL studiert und ich bringe euch bei, wie ihr mehr Geld verdienen könnt mit weniger Arbeit.“ Sie haben mir zugehört, fanden das amüsant und es hat funktioniert. Es ging um Sachen wie Kreditwürdigkeitsüberprüfung, Kartellformierung — also, dass wir zusammenarbeiten müssen, nicht gegeneinander. Und es ging um Marktsegmentierung: Die beiden haben das Zigarettengeschäft gemacht und ich das Essensgeschäft, die haben sich auf die Afroamerikaner konzentriert und ich mich auf die Weißen. Dabei haben wir zusammengearbeitet und uns gegenseitig Kunden zugschickt. Am wichtigsten war natürlich der Kundenservice. Als Erklärung dazu: Wenn jemand am Ende des Monats nicht gezahlt hat, wurde er verprügelt. Aber wenn der Schuldner auf der Krankenstation liegt, kann er seine Schulden nicht abbezahlen. Meine Geschäftspartner mussten also aufhören, ihren Handel als Masche zu sehen und beginnen, es als Geschäft zu betrachten. Ich erklärte ihnen: „Das sind nicht eure Opfer, das sind eure Kunden. Und der Kunde ist König. Ihr müsst die Leute besser behandeln. Ihr könnt sie bedrohen, aber nicht verprügeln, weil das nichts bringt. Sie können nichts zurückzahlen, wenn ihr sie kaputt macht.“ Tatsächlich ist es mir gelungen, dass sie mit meinen Techniken mehr Geld verdienen konnten. Und auch ich konnte Geld verdienen, wobei das nicht Sinn der Sache war. Der Sinn der Sache war, dass alle anderen Häftlinge sehen konnten, dass ich den beiden Typen wichtig bin. Die brauchten mich, damit das Geschäft richtig gut läuft und fanden mich cool. Also haben sie mich die anderen in Ruhe gelassen, dann keiner wollte Stress mit den beiden.

Frage: Es ist wirklich unglaublich faszinierend und eindrücklich, wie Sie den Alltag im Gefängnis bewältigt und was Sie aus Ihrer Situation gemacht haben. Heute arbeiten Sie als Experte für Resilienz. Was genau verstehen Sie darunter?

Antwort: Ich bin natürlich kein ausgebildeter Resilienztrainer. Ich habe Lebenserfahrung, die ich gerne mitteilen möchte, weil ich anderen Menschen helfen möchte. Ich habe die Hoffnung, dass meine Erfahrungen doch einen Wert haben. Als ich zurückkam ist mir mal angeraten worden, ich soll einfach ein neues Leben anfangen und alles hinter mir lassen. Ich habe mich dagegen entschieden. Ich möchte ein einheitliches Leben haben. Ich möchte, wenn irgend möglich, nicht von meiner Vergangenheit weglaufen, sondern versuchen, etwas darin zu finden, das ich weiterreichen kann. Etwas, das einen Wert hat. Denn wenn diese 33 Jahre einen Wert haben für andere, dann haben sie auch einen Wert für mich, dann ist das keine verlorene Zeit. Das ist eine richtige Schlüsselsache für mich.
Den Begriff Resilienz benutze ich im Kontext meiner eigenen Erfahrungen. Wie gesagt, ich bin kein Experte, ich habe nur Lebenserfahrung. Ich kann sagen, was für mich funktioniert hat und hoffe, dass andere Menschen darin etwas finden, das ihnen Hoffnung gibt oder vielleicht den ein oder anderen praktischen Tipp. Denn es geht sehr viel um Grundeinstellung und darum, wie man die Hoffnung nicht verliert. Das ist zwar nicht das Gleiche wie Resilienz, aber es geht in diese Richtung.
Frage: Sie betonen in Ihren Büchern immer wieder, dass es wichtig ist, sich nicht als Opfer zu fühlen. Können Sie dazu etwas mehr sagen?
Antwort: Das ist aus meiner Sicht einer des Resilienztipps. Man muss aus der Opferrolle raus. Wenn man sich selber als Opfer sieht, dann hat man keine Macht, um seine Situation zu verbessern. Denn es ist sehr bequem, in der Opferrolle zu sein. Die anderen haben mir etwas Böses angetan, mir geht es so schlecht. Das ist die einfache Lösung. Aber dann hat man auch keine Macht, um seine Situation zu verbessern. Man muss, und das ist wirklich schwierig, man muss Verantwortung übernehmen. Nur so ist man kein Opfer mehr, sondern bekommt wieder die Macht über sein eigenes Leben. Die Schwierigkeit damit ist, und das ist mir passiert in den ersten 15 Jahre meiner Haft, ich habe mich in einen Selbsthass hineingesteigert. Die ersten 15 Jahre habe ich mich selbst richtig, richtig, tief gehasst. Ich bin da nur rausgekommen, weil ich danach neuneinhalb Jahre sehr intensiv meditiert habe. In einem christlichen Kontext, das nennt sich „centering prayer“, Gebet der Sammlung und geht in Richtung Kontemplation. Davon handelt auch mein erstes Buch, aber grundsätzlich geht es um Meditation. Es gibt einen Unterschied zwischen Verantwortung übernehmen und Selbsthass. Aber der Grad ist nicht so leicht zu finden. Da muss man sehr vorsichtig sein.

Frage: Können Sie noch etwas genauer beschreiben, wie das Thema Verantwortung und Selbsthass in Ihrem Fall aussah?

Antwort: In meinem Fall war das ziemlich eindeutig. Ich hatte es tatsächlich geschafft, mein eigenes Leben zu zerstören. Dabei hatte ich immer und immer wieder die Gelegenheit, das Richtige zu tun. Wenn ich noch in der Tatnacht die Polizei informiert hätte, um die Wahrheit zu sagen, dann wäre mir nichts passiert. 14 Monate später, als ich verhört wurde, hatte ich wieder die Möglichkeit, die Wahrheit zu sagen. Dieses Mal habe ich nicht nur nichts gesagt, sondern ich habe tatsächlich aktiv gelogen. Ich habe ein falsches Geständnis abgegeben. Dazu hat mich niemand gezwungen, das ist klar. Ich hatte in der Tatnacht den Plan gefasst, dass ich den Held spielen wollte. Ich wollte das Leben eines Menschen retten vor der Hinrichtung auf dem elektrischen Stuhl. Was ein ganz, ganz entsetzlicher Tod ist. Ich wollte der Held meiner Freundin sein. Der Nerd, der endlich mal das „cool kid“ ist. Diese Kombination aus versuchtem Heldentum und Stolz, hat mich 33 Jahre meines Lebens gekostet. Dafür kann ich niemandem die Schuld für geben. Alles was danach kam, folgte daraus. Andere Leute haben mir sehr böse Sachen angetan, aber sie hätten keine Gelegenheit dazu gehabt, wenn ich die Wahrheit gesagt hätte. Ich habe es nicht getan, als ich die Möglichkeit dazu hatte und deshalb habe ich mich selber gehasst. Es wäre besser gewesen, einfach nur die Verantwortung zu übernehmen und mich nicht in Selbsthass hineinzusteigern.

Frage: Haben Sie das Bedürfnis, Ihre Freundin von damals wiederzusehen?

Antwort: Überhaupt nicht. Ich habe ihr nichts zu sagen, sie hat mir nichts zu sagen. Das steht auch in meinem letzten Buch „Rückkehr ins Leben“. Nachdem wir beide entlassen wurden, haben wir uns nicht gesehen. Wir waren im gleichen Gebäude auf der anderen Seite der Tür. Durch dieses Gebäude kommen Menschen, die abgeschoben werden. An diesem Tag kam eben Menschen, die vor Jahrzehnten etwas miteinander gehabt haben.

Frage: Haben Sie ein Lebensmotto?

Antwort: Ja, natürlich. Dazu kommt mir zunächst eine kleine Vorgeschichte von einem ganz, ganz großen Menschen in der Geschichte. Er kam aus einem kleinen Dorf in Österreich. Erst war er Künstler, dann wurde er Politiker in einem ganz hohen Amt. Von wem rede ich? (Pause) Arnold Schwarzenegger natürlich! Erst war er Schauspieler, dann Gouverneur von Kalifornien. (Lacht, weil die Deutschen immer auf diesen Witz hereinfallen).
Sein Meisterwerk sind natürlich die Terminator-Filme. Wie hochphilosophisch die sind, wird vollkommen unterschätzt. Darin gibt es diese wunderbare Zeile: „There is no fate but what we make.“ Es gibt kein Schicksal außer jenem, das wir selber schaffen.
Das ist natürlich der reine Existenzialismus und könnte von Albert Camus stammen. Aber das kommt eben ziemlich gut rüber in diesem Terminator-Film, und die Leute können damit wahrscheinlich eher etwas anfangen, als mit Albert Camus.
Es ist einfach die Wahrheit. Es gibt kein Schicksal außer jenem, das wir selber schaffen. Das ist etwas, das ich immer in meinen Resilienz-Talks sage: Ein klassischer Resilienztipp ist Akzeptanz und das ist einer der sieben Säulen. Genauso wie Nicht-Opfersein bzw. aus der Opferrolle herauskommen. Aber der Zusatz, den ich noch ergänzen will und wovon wir vorhin gesprochen haben, ist der Selbsthass. Man darf sich nicht zum Opfer der eigenen Vergangenheit oder seiner eigenen Charakterschwäche machen. Denn daher kommt der Selbsthass.

Frage: Würden Sie sagen, dass es ein Schicksal gibt, dem man machtlos ausgeliefert ist?

Antwort: Man kann Opfer von anderen Menschen werden und kommt nicht aus der Opferrolle raus. Man kann aber auch sich selber als Opfer der eigenen Vergangenheit sehen oder der eigenen Charakterschwäche. Dann ist man wieder in der Opferrolle drin und es führt zu Selbsthass. Das ist der Unterschied und der feine Grat, den man wandern muss. Man darf sich einerseits nicht als Opfer anderer Menschen sehen, andererseits darf man sich aber auch nicht als Opfer seiner selbst sehen.
Dann ist da die Sache mit der Akzeptanz. Ganz wichtig: Man muss die Fakten akzeptieren. Aber man darf auf keinen Fall die Schlussfolgerung daraus akzeptieren. Was ich damit meine: Ich musste 1991 das Urteil akzeptieren, dass es einen Schuldspruch gegen mich gab und dass ich im Gefängnis sitzen würde. Aber ich musste nicht die Schlussfolgerung akzeptieren, dass ich nie mehr herauskomme. So verstehe ich diesen Satz von Schwarzenegger: „There is no fate but what we make.“ Schicksal gibt es nicht bzw. was wir damit machen, das können wir entscheiden. Das ist immer möglich. Das ist unsere Freiheit. Es muss nie so kommen, wie es gesagt wird. Es gibt auch diesen schönen Spruch von Nicolas Chamfort, einem französischer Schriftsteller aus dem 18. Jahrhundert. Er sagte: „Die Fähigkeit, das Wort ,Nein‘ auszusprechen, ist der erste Schritt zur Freiheit.“
Das beziehe ich auch auf vermeintliche Schicksalsschläge. Man muss die Fakten akzeptieren, aber man muss nicht das darauffolgende sogenannte Schicksal akzeptieren. Man kann Nein sagen. Und das ist sehr wichtig, dass man Nein sagt.
Man sieht das doch jetzt gerade in der Ukraine. Alle sagen, die Ukrainer können den Krieg nicht gewinnen. Aber die Ukrainer sagen: „Nein! There is no fate but what we make.“ Sie akzeptieren, dass die Russen im Land sind. Sie akzeptieren aber nicht, dass die Lage aussichtlos ist und sie verlieren werden. Das ist die Freiheit die folgt, wenn man das Wort „Nein“ sagt. Deswegen finde ich das so schlimm: Es gibt in Deutschland einige Menschen, die sagen: „O mein Gott, die können den Krieg doch gar nicht gewinnen. Dann sollten sie doch am besten jetzt schon kapitulieren, damit der Horror vorüber ist.“ Ich bin über solche Aussagen entsetzt. Das Leben ist nicht rational. Gott sei Dank.
Frage: Ich nehme in Ihren Beschreibungen immer mal wieder schwarzen Humor wahr. Ist das etwas, das Ihnen geholfen hat, um mit der Situation besser klarzukommen?
Antwort: Das ist auch eine Überlebensstrategie. Schwarzer Humor wird im Gefängnis sehr gepflegt. Den braucht man zum Überleben. Je schlimmer es wird, desto mehr muss man lachen. Das ist aber nur möglich, wenn man selbst in der Situation drin ist. Man kann nicht von außen als Beobachter reinlachen. Aber wenn man selber drinsteckt, dann kann man oft Dinge sehen, die wirklich lustig sind. In meinem Buch beschreibe ich so eine Szene: Wir bekamen ja kein frisches Gemüse. Irgendwann ging dann das Gerücht um, dass wir Lauchzwiebeln zum Mittagessen bekommen würden. Zwei auf jedem Teller. Sofort fingen die Verhandlungen zwischen den Häftlingen an. Lauchzwiebeln, die wir noch gar nicht hatten, wurden bereits verkauft und getauscht gegen Chipstüten und Kekse. Dann ging die Türen zum Speisesaal auf. Dort waren dann 64 erwachsene Männer, die sich alle aus dem Weg gestoßen haben, um als Erster die Lauchzwiebeln zu bekommen. Wenn das nicht absurd ist, wenn man da nicht lachen kann, dann hat man was verpasst.

Herr Söring, ich danke Ihnen sehr für dieses persönliche und ehrliche Interview. Ich bin mir sicher, es gibt viele Menschen, die Ihnen zutiefst dankbar sind, dass Sie Ihre Geschichte und den daraus gewonnenen Schatz mit ihnen teilen.

Ich danke Ihnen. Es hat mir sehr viel Freude gemacht.

ernlegrafik weiss